Projekt
Von der neueren Erinnerungsforschung lassen wir uns zu der Frage inspirieren, wie Individuen in ihrer täglichen Praxis mit den vielfältigen und manchmal offen widersprüchlichen Deutungsangeboten konkurrierender Deutungseliten umgehen. Gleichzeitig profilieren wir die Schule als ein leicht zugängliches Forschungsfeld, in dem sich auch in international vergleichender Perspektive untersuchen lässt, wie sich Lehrerinnen und Schülerinnen in eigensinnigen Übersetzungsprozessen staatlich kontrollierte Bilder der Vergangenheit aneignen. Dabei richten wir den Fokus auch auf die intergenerationelle Tradierung von Erinnerung und Bedeutungszuschreibung. Wir wollen wissen, ob die Erinnerungen von Lehrern und Schülern an den Kalten Krieg auf die Existenz generationenspezifischer Erinnerungsmuster schließen lassen. Wir wollen untersuchen, ob Unterschiede zwischen den jeweiligen Generationen größer sind als Fragmentierung und Individualisierung innerhalb der einzelnen Generationen.
Lange schon fordern Geschichtsdidaktiker Forschungen zur Wirkung von Schulbüchern. Bislang hat jedoch noch kaum jemand systematisch oder sogar vergleichend untersucht, was in der täglichen Unterrichtspraxis eigentlich passiert, im so genannten didaktischen Dreieck zwischen Deutungsvorgaben von Schulbüchern, Zielsetzungen von Lehrerinnen und Aneignungsmustern von Schülerinnen. An jedem Punkt in diesem Dreieck lassen sich eigentümliche Spannungen beobachten. Schulbücher liefern einerseits ein zuverlässiges Bild dessen, was als gesamtgesellschaftlich relevantes Wissen gilt, andererseits spiegeln sich in ihnen aber auch gesellschaftliche Kontroversen um strittige Fragen wider. Geschichtslehrerinnen sind im Unterricht einerseits zu strikter Neutralität verpflichtet. Andererseits wissen wir, dass emotional engagierte und als Personen greifbare Lehrerinnen in den Augen von Schülerinnen mehr Glaubwürdigkeit beanspruchen können. Regelmäßig erzielen solche Lehrerinnen bessere Lernerfolge. Schülerinnen sollen schließlich einerseits eigenständige Deutungs- und Urteilskompetenz erwerben, andererseits wird ihr Deutungswissen regelmäßig geprüft. Wie Schulbücher, Lehrerinnen und Schülerinnen in konkreten Situationen zwischen diesen gegensätzlichen Polen navigieren, wollen wir mit Fokus auf Unterricht über den Kalten Krieg untersuchen.
Die Mediennutzungsforschung beschäftigt sich seit einiger Zeit mit der Frage, wie sich Jugendliche in einer zunehmend mediatisierten Umwelt gesellschaftlich relevante Informationen aneignen. Es wird davon ausgegangen, dass Jugendliche auch aufgrund der Allgegenwärtigkeit von Medien bei der Herausbildung von Deutungs- und Handlungsmustern immer weniger von traditionellen Sozialisationsinstanzen wie Familie und Schule geprägt werden. Daran anknüpfend untersuchen wir, wie Jugendliche in der Praxis mit einem klassischen Bildungsmedium wie dem Schulbuch umgehen, welche Bedeutung sie den Inhalten beimessen und wie sie es zu anderen medialen Einflüssen in Beziehung setzen.
Dem ökologischen Ansatz von Andrew Hoskins folgend, der neue Erkenntnisse aus dem Bereich der Medienforschung auf die Erinnerungsforschung überträgt, gehen wir davon aus, dass die Grenzen zwischen den Erinnerungen eines Individuums und den Erinnerungen in der medialen Welt nach dem connective turn immer unschärfer werden. Am Beispiel des Geschichtsunterrichts wollen wir daher untersuchen, wie individuelle, staatlich festgelegte und medial verbreitete Erinnerungen zum Kalten Krieg in einem fest eingegrenzten Raum wie der Schule zusammenfließen.
Mit dem Kalten Krieg greifen wir einen historischen Gegenstand auf, der in der zeitgeschichtlichen Forschung zurzeit intensiv diskutiert wird. Die Zeit zwischen 1945 und 1990 war und ist die oft zitierte Kontrastfolie für konkurrierende Deutungsversuche der Gegenwart. Je nachdem, ob man glaubt, heute das Ende der Geschichte, den Kampf der Kulturen oder die Krise des Westens zu erleben, wird man die unmittelbare Vorgeschichte der Jetztzeit anders erzählen. Der eine verbindet die Zeit der Blockkonfrontation mit ideologischen Gegensätzen und konstruiert einen Gegensatz zu der mittlerweile unangefochtenen Hegemonie von Demokratie und Marktwirtschaft. Der andere denkt unter dem Eindruck neoliberaler Reformen eher an die Konjunktur des Wohlfahrtstaates, in dem er ein zeitlich befristetes Produkt der Systemkonkurrenz erkennt. Ein dritter richtet den Fokus auf die Logik der Abschreckung und sieht in der atomaren Vernichtungsdrohung von damals auch eine recht erfolgreiche Garantie für die Zähmung des heißen Krieges. Plausibilität gewinnt eine solche Deutung vor dem Hintergrund ethnisch und religiös motivierter Gewalt in den Zeiten der neuen Weltunordnung, die für viele nach dem Ende des Kalten Krieges begann. Im Projekt untersuchen wir, wie Lehrerinnen und Schülerinnen sich im Widerstreit gegensätzlicher Erzählungen orientieren. Wir wollen wissen, welche Geschichten verworfen, welche vielleicht bewusst oder unabsichtlich uminterpretiert und welche als plausibel akzeptiert werden.
Mit Deutschland, Schweden und der Schweiz haben wir Länder ausgewählt die sich hinsichtlich ihrer politischen Rolle im Kalten Krieg unterscheiden. Während Ost- und Westdeutschland, beide an den Frontlinien des Kalten Krieges, eng in die jeweiligen Bündnisse der beiden rivalisierenden Großmächte eingebunden waren, stehen Schweden und die Schweiz für zwei unterschiedliche Ausprägungen von Neutralitätspolitik: die Schweiz als eher pragmatisch und berechnend vorgehender Akteur und Schweden als Verfechter eines so genannten dritten Weges. Die jeweiligen dominanten Identitätskonstruktionen sind jedoch in allen drei Ländern mit Ende des Kalten Krieges ins Wanken geraten. Wir wollen untersuchen, wie sich diese von der Erinnerungstheorie als relevant markierten Bedingungen auf die Erinnerungspraktiken in den jeweiligen Ländern auswirken und ob in Zeiten von Globalisierung und Individualisierung überhaupt noch nationalen Räumen der Erinnerung gesprochen werden kann.
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