Biographische Interviews

Überlegungen zu Ablauf und Auswertung der biographisch narrativen Interviews mit Lehrpersonen

Barbara Christophe/Kathrin Zehr

Warum machen wir biographische Interviews mit Lehrpersonen über die Zeit des Kalten Krieges?

Vor mittlerweile 25 Jahren endete der Ost-West Konflikt mit dem Fall der Mauer. Das ist in etwa die Zeitspanne, die es braucht bis eine Vergangenheit museumsreif wird. Im Fall des Kalten Krieges ist das nicht anders. Überall, von Peking über Moskau und Tirana bis nach Harvard entstehen speziali-sierte Forschungsinstitute. In Berlin, der Stadt, in der der Kalte Krieg mitunter in einen heißen Krieg umzuschlagen drohte, diskutiert man seit vier Jahren über eine Dauerausstellung am Check-Point Charly.

All das zeigt: Das kulturelle Gedächtnis und die kulturellen Deutungseliten arbeitet auf Hochtouren an der Prägung von Deutungsmustern. Gleichzeitig ist unübersehbar, dass es uns heute noch (?) schwer fällt, die eine Geschichte über diese historische Periode zu erzählen, in der die Welt in zwei Blöcke gespalten war und in der er es grundsätzlich auf jede Frage  mindestens zwei entgegengesetzte Antworten gab. Zwar gibt es diese Blöcke und die sie legitimierenden Erzählungen mittlerweile nicht mehr. Aber mit ihrem Verschwinden ist die Lage erst recht unübersichtlich geworden. Schließlich ist nicht nur der sozialistische Osten untergegangen. Auch der Westen, von dessen Triumpf schon lange keiner mehr spricht, hat etwas verloren, seinen Gegenpol. Er kann seine Identität nicht mehr negativ durch Abgrenzung bestimmen. Er kann sich mehr länger nur deshalb als marktwirtschaftlich und demokratisch beschreiben, weil der Osten sozialistisch und diktatorisch war. Was den Westen heute ausmacht, wer dazugehört und wer nicht, von wem oder von was er sich unterscheiden will, auf all diese Fragen gibt es in unserer Gegenwart keine eindeutigen und für alle überzeugenden Antworten mehr.

Aus der Erinnerungstheorie wissen wir, dass derjenige, der seine Gegenwart nicht auf den Begriff bringen kann, auch Schwierigkeiten haben wird, ein klares Bild von seiner Vergangenheit zu entwerfen. Es fehlt gewissermaßen der Fluchtpunkt, auf den man sich zu bewegen, der Horizont, in den man hinein sprechen kann. Eine Geschichte, von der man nicht weiß, wie sie endet, erzählt sich nicht gut.

In einer solchen Situation, in der die eine „große“ Geschichte mit gutem Grund noch nicht gefunden ist, interessieren wir uns für die vielen „kleinen“ Geschichten von real existierenden Menschen. Wir wollen mit Zeitzeugen ins Gespräch kommen. Mit ihnen wollen wir darüber sprechen, welche Erfahrungen sie in der Vergangenheit des Kalten Krieges gemacht haben und welche Bedeutung sie dieser Vergangenheit heute zuschreiben. Nur wenn wir viele solcher Geschichten kennen, so unsere tiefe Überzeugung, kann es irgendwann gelingen, eine Erzählung über diese Zeit zu entwickeln, die anschlussfähig ist an gelebte Erfahrung.

Lehrpersonen sind aus unserer Sicht besonders wertvolle Zeitzeugen. Sie sind immer zweierlei zugleich: Unverwechselbare Menschen mit ihrer je eigenen, spezifischen „kleinen“ Geschichte und Mitglieder einer Berufsgruppe, die darauf spezialisiert ist, die „großen“ Erzählungen an die Mitglieder der jungen Generation zu vermitteln. Sie sind die ersten, die merken ob kulturelle Erzählungen funktionieren. An sich selber, aber auch an ihren Schülern und Schülerinnen können sie frühzeitig feststellen, ob die offizielle Geschichte, wie sie etwa in Schulbüchern erzählt wird, anschlussfähig ist an die vielen kleinen Geschichten, die im Familiengespräch, aber auch in Filmen oder anderen Medien der Populärkultur zirkulieren. Im täglichen Kontakt mit Mitgliedern der jungen Generation, können sie früher als alle anderen feststellen, ob das Generationengespräch gelingt. Sie merken es,  ob die von den Älteren erzählten Geschichten für die Jüngeren noch verstehbar sind oder ob die in ihnen angebotenen Deutungen schon lange nicht mehr nachvollziehbar sind für Menschen, die anders aufgewachsen sind – sei es weil das Wissen fehlt oder weil sich Wertüberzeugungen verändert haben.

Wie läuft ein biographisches Interview ab?

Das biographisch-narrative Interview gleicht weniger einem formalen Interview mit standardisierten Fragen und Antworten. Es ähnelt vielmehr einem informellen Gespräch, dessen Gestaltung zunächst ganz in den Händen des Interviewpartners liegt. Die Lehrer_innen werden aufgefordert, in einer freien Erzählung ihr Leben zu erzählen. Sie entscheiden darüber, was wichtig ist und was nicht. Sie kontrollieren, was sie erzählen wollen und was nicht. Der Interviewer mischt sich so wenig wie möglich ein und stellt im Nachhinein nur ein paar Verständnisfragen oder Fragen zu ausgewählten Aspekten.

Was machen wir mit den biographischen Interviews?

In einem ersten Schritt erstellen wir eine Transkription von dem Interview. Das transkribierte Inter-view wird der interviewten Lehrperson zur Prüfung vorgelegt. Alle Namen und Ortsangaben werden dabei durch Anonymisierung unkenntlich gemacht.

Welche Fragen stellen wir bei der Auswertung der Interviews?

Bei der Auswertung der Interviews richten wir den Blick immer auf zweierlei: (i) Auf die Vergangen-heit des Kalten Krieges, ÜBER die erzählt wird, und (ii) auf die Gegenwart nach dem Kalten Krieg, IN der erzählt wird.

Erstens wollen wir untersuchen, welche unterschiedlichen Erfahrungen Lehrpersonen in Deutsch-land, Schweden und der Schweiz FRÜHER, in der Zeit des Kalten Krieges gemacht haben. Wie sind sie aufgewachsen? Wie haben sie Schule, Studium und Beruf erlebt? Welche Musik haben sie gehört? Welche Ereignisse waren prägend für ihr Leben?

Zweitens wollen wir erforschen, was Lehrpersonen in unseren drei Ländern HEUTE über die Zeit des Kalten Krieges denken. Was erscheint ihnen wichtig? Welche Bedeutung messen sie politischen Konflikten, aber auch sozialen und kulturellen Veränderungen zu? Wie beurteilen sie die Vergangenheit des Kalten Krieges im Vergleich zu der Gegenwart von heute?

Drittens wollen wir herausfinden, wie Lehrer über den Kalten Krieg als Gegenstand von schulischem Geschichtsunterricht denken. Welche Themen halten sie für wichtig? Wie viel persönliche Erfahrungen lassen sie in den Unterricht über eine Zeit einfließen lassen, die er selber als Zeitzeuge erlebt hat? Welche Erfahrungen machen Lehrer und Lehrerinnen im Laufe der Zeit mit unterschiedlichen Jahrgängen von Schülern? Gelingt es ihnen, sie für das Thema zu interessieren? Wozu stellen Schüler und Schülerinnen Nachfragen? Was wissen sie, was fällt ihnen schwer zu verstehen? Zu welchen Themen gibt es kontroverse Diskussionen im Klassenraum?

Welches Erkenntnisinteresse verfolgen wir bei der Auswertung der Interviews?

Wir verfolgen sowohl geschichtsdidaktische das auch erinnerungstheoretische Erkenntnissinteressen.

Auf der Ebene geschichstdidaktischer Fragestellungen, richten wir den Blick auf Lehrpersonen, weil sie unverkennbar einen großen Einfluss darauf haben, wie Geschichte und dabei v.a. Zeitgeschichte im Geschichtsunterricht vermittelt wird. Das ist immer wieder vermutet worden, gleichwohl gibt es bislang noch kaum gesicherte empirische Erkenntnisse. Wir wollen herausfinden, wie Lehrpersonen Schulbücher nutzen, was sie von ihnen denken, wie stark sie sich als Person mit bestimmten Erfahrungen in den Unterricht einbringen und wie sie mit Blick auf ein aktuelles Thema der Zeitgeschichte  den Beitrag des Geschichtsunterricht zur Verständigung über Generationsgrenzen hinweg einschätzen. Bei alldem geht es uns natürlich auch darum, Anregungen zu bekommen und zu formulieren, wie Geschichtsunterricht zukünftig verbessert werden kann. Dafür brauchen wir das Wissen aus der Praxis.

Auf der Ebene erinnerungstheoretischer Fragestellungen wollen wir Geschichtslehrer in den Fokus nehmen, weil wir in ihnen ein wichtiges Scharnier zwischen den Deutungsvorgaben des kulturellen Gedächtnisses und den Erinnerungspraktiken von konkreten Menschen in einem wichtigen Feld wie der Schule sehen. Lehrpersonen sind in einem doppelten Sinn Übersetzer. Zunächst setzen sie sich vor dem Hintergrund eigener Erfahrungen mit den Deutungsmustern in Schulbüchern auseinander. In einem nächsten Schritt übersetzen sie ihre Lesart von Schulbucherzählungen auch vor dem Hintergrund ihrer jeweiligen didaktischen Überzeugungen in Unterrichtspraxis. Wenn wir untersuchen, wie Lehrpersonen ihre Übersetzerrolle wahrnehmen, tun wir das in doppelt vergleichender Perspektive.

Zunächst vergleichen wir Praktiken des Erinnerns in verschiedenen nationalen Kontexten. Wir wollen erforschen, wie ein Thema wie der Kalte Krieg, das in Schweden, in der Schweiz und in Deutschland regelmäßig unterrichtet wird, in den Schulen von drei Gesellschaften behandelt wird, die unterschiedliche historische Erfahrungen gemacht haben, unterschiedliche Schulbücher benutzen und unterschiedliche öffentliche Diskurse über Zeigeschichte haben. Dabei wollen wir unser Augenmerk auch auf die Frage richten, ob Lehrpersonen, die als Angehörige derselben Generation und/oder als Mitglieder derselben professionellen Gruppe vielleicht auch länderübergreifend gemeinsame Erfahrungen und Überzeugungen teilen.

Wir vergleichen aber auch innerhalb der nationalen Kontexte zwischen verschiedenen Typen von Lehrpersonen. Dabei wollen wir im Rahmen eines offenen Vorgehens erst noch herausfinden, welche Dimensionen für die Typenbildung relevant sind. Denkbar ist, dass folgende Faktoren einen Einfluss darauf haben, wie Lehrpersonen über den Kalten Krieg denken und wie sie den Kalten Krieg unterrichten:

  1. soziostrukturelle und soziokulturelle Herkunftsmilieu, die – so kann man mit Erinnerungstheoretikern vermuten, die mittlerweile wieder stärker Konflikt als Konsens um Erinnerung betonen – vielleicht ihre je eigenen Deutungsmuster ausprägen
  2. politische und kulturelle Orientierungen in der Adoleszenzphase, die schon Karl Mann-heim als formative Periode bezeichnet hat
  3. politische und kulturelle Orientierungen in der Gegenwart, denen präsentistische Ansätze in der Erinnerungsforschung einen entscheidenden Einfluss auf die Bilder zuschreiben, die wir uns von der Vergangenheit machen
  4. Karrierewege und das
  5. Rollenverständnis als Geschichtslehrer oder als Geschichtslehrerin wie es Forschungsergebnisse aus dem Georg Eckert Institut nahelegen.

Weil wir offen vorgehen wollen, weil wir noch nichts über die Faktoren wissen, die Praktiken des Erinnerns beeinflussen, haben wir uns dafür entschieden, biographisch-narrative Interviews zu führen. Dieser Interviewtypus liefert nicht nur eine Fülle von unterschiedlichen Daten. Er macht den Interviewpartner auch zum Experten und überlässt ihm die Entscheidung, was als relevant markiert wird.